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Nach dem Öffnen der Wagenplane sah man weiter nichts als die schemenhaften Umrisse von Güterwagen und, durch die Scheinwerfer der Transportautos beleuchtet, Gestalten, die sich langsam in Richtung der Waggons bewegten. Jetzt gab es keine Zweifel mehr. Hier musste ein Sammelplatz für die lebende Fracht sein, die nach Russland transportiert werden sollte. [...] Vorerst waren wir alle wie gelähmt, aus Angst, vor Erschöpfung, aber auch durch den großen Kummer. Keiner sprach ein Wort, nur leises Schluchzen war zu hören. Ich konnte nicht weinen! Vielleicht lag es daran, dass ich noch so jung war und meine Gedanken auch in dieser erbärmlichen Situation nur um einen Gedanken kreisten - wie komme ich hier heraus?
Der Zug rumpelte eintönig, aber sehr langsam über die Gleise. Für mich wurde es Zeit aufzubrechen. Zuerst beförderte ich den Rucksack und alles, was nicht hineinpasste, nach draußen. Ohne viel Abschiedsworte kletterte ich auf den Rücken der kräftigen Frau, quetschte mich mühevoll durch die Öffnung, fand auch ein wenig Halt mit den Füßen an der Außenwand und sprang. Alles ging so rasend schnell.
Eine Vorstellung von dieser Gegend hatte ich überhaupt nicht. Woher auch? Erst als Onkel Pawel eine alte Landkarte aus einer Schublade herauskramte, wurde mir bewusst, dass der Rückweg bis Königsberg sehr, sehr weit war, denn ich befand mich in der Nähe von Pskow am Paipussee. Der alte Mann erzählte mir, dass in seinem Dorf nicht mehr viele Menschen leben würden. Die jungen Männer, soweit sie noch lebten, waren noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt und eine Anzahl Frauen und Mädchen wurden zur Zwangsarbeit deportiert.
In der Küche saß Onkel Pawel am Tisch und schaute mich ganz bedeutungsvoll an. Im Augenblick konnte ich mir nicht erklären, was das zu bedeuten hatte. Er ging an den Kühlschrank, holte zwei Wassergläser heraus, nahm einen irdenen Krug vom Bord, goss eine klare Flüssigkeit in die Gläser und sagte ganz würdevoll: „Der Krieg ist aus, Berlin kaputt, Hitler tot!“ [...]
Plötzlich fiel mir ein, dass ich nicht einmal wusste, welches Datum wir hatten, und erfuhr, es war der achte Mai 1945. In zwei Tagen hatte ich Geburtstag, meinen siebzehnten. Fast hätte ich nicht mehr daran gedacht.
Er machte sich Gedanken, wie ich meinen Rückmarsch in die Heimat bewältigen könnte. Seiner Meinung nach würde dieser als Mädchen unmöglich sein und er stellte sich deshalb vor, die Haare kurz abzuschneiden und mich wie einen Landstreicher auszustaffieren. [...]
Unterwegs sollte ich möglichst Ansiedlungen meiden, um nicht unnötig Verdacht zu erregen. Jetzt erst merkte ich so richtig, was mir auf dem langen Weg ganz alleine bevorstand, wenn ich ihn bewältigen wollte. Wichtig sei, so sagte er, dass ich täglich ein paar Stunden schlafe, nicht friere, etwas zu essen finden und heile Füße habe, dann könnte man große Anstrengungen bewältigen.
Onkel Pawel fiel es sichtbar schwer, mich so in den Abend zu schicken, denn ich musste mich hauptsächlich abends und in der Morgendämmerung bis zum Hellwerden, wenn noch alles schläft, bemühen, vorwärts zu kommen. Am Tage sollte ich mich verstecken. Zunächst war mir recht beklommen zumute, aber die gegenwärtige Anpassung an die neue Lage brauchte meine ganze Aufmerksamkeit, so dass dieses Gefühl bald verschwand. Wenn wir auch früher häufig gewandert sind, doch stets in der Gruppe mit Kompass und Uhr auf bekannten Straßen und Wegen. [...]
Ich musste zugeben, dass mein großer Mut mit dem Einbruch der Dunkelheit mächtig zusammenschrumpfte. Diese Beklemmung war aber anders als vor der Verschleppung. Sie ließ sich bekämpfen und schließlich überwinden. [...] In dieser Nacht wollte ich möglichst 20 Kilometer schaffen. Dann könnte ich vielleicht morgen in Lettland sein.
Unschlüssig, wie ich mich nun verhalten sollte, ließ ich meinen Blick schweifen und entdeckte völlig abseits die Umrisse eines Daches, inmitten von verwahrlosten Bäumen. Wenn dieses Anwesen unbewohnt wäre, könnte es der richtige Unterschlupf für mich sein. Es war wirklich keine Menschenseele weit und breit zu spüren. Die einstigen Bewohner mussten schon lange fort sein. Alles war schmutzig und verstaubt, die Fensterscheiben waren kaputt und die Haustür hing schief in den Angeln. [...] Ich schaffte es gerade noch, mir die Fußsohlen mit Onkel Pawels Heilsalbe einzureiben, von der er mir eine große Dose eingepackt hatte, dann musste ich gleich eingeschlafen sein.
So richtig feste Straßen gab es in dieser Gegend nicht. Die Dörfer waren durch Landwege verbunden, die sich in einem katastrophalen Zustand befanden. [...] Onkel Pawel hatte gesagt, dass überall viele Ruinen zu finden wären, die meisten Gebäude stünden leer. Die Bewohner hätten die Kämpfe nicht überlebt oder wären geflohen. Hier könnte ich mich gut verstecken, wenn deren Lage außerhalb von Orten wäre. Daran wollte ich mich halten.
Für die etwa 700 Kilometer Luftlinie bis Königsberg, so hatte ich mir ausgerechnet, musste ich, wenn alles glatt gehen würde, bestimmt einen Monat einplanen. Danach wäre ich Mitte Juli am Ziel. Ganz so sollte meine Rechnung dann aber doch nicht aufgehen. Solange ich noch etwas Essbares in meinem Rucksack hatte, bestanden keine Probleme. Dann aber wurde es schwierig, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als bei Menschen, die selbst kaum etwas hatten, zu betteln.
In dieser Gegend stieß ich des öfteren auf Hütten, von besiedelten Orten weit entfernt, jedoch meist verfallen oder stark beschädigt. Für mich bedeuteten sie aber immer wieder sicheren Unterschlupf. Manchmal musste ich mir meinen Schlafplatz auf dem nackten Boden zurecht machen, weil alles verwüstet war. Doch auch dort kann man schlafen, wenn man so erschöpft war wie ich.
Mittlerweile hatte ich litauisches Gebiet erreicht und müsste mittlerweile die Hälfte des Weges hinter mich gebracht haben. Welches Datum geschrieben wurde, wusste ich nicht, nur, dass es schon Junitage sein mussten. Rundherum war alles trostlos. Überall Verwüstungen, Öde und Leere und bei den wenigen hier lebenden Menschen Not und Elend. Wieder entdeckte ich einen verlassenen Gutshof in der Nähe meines Weges und bezog dort meine Bleibe für die Nacht. Den letzten Namen, den ich mir auf der Landkarte gekennzeichnet hatte, war Siauliai.
Meine Gefühle waren derart durcheinander geraten, dass ich mich erst mal beruhigen musste. Einerseits hatten Menschen dieses Volkes versucht, mich zu deportieren, haben mir Heimat, Eltern, überhaupt alles, was ich besaß, genommen, und heute gaben mir Menschen mit der gleichen Uniform zu essen und auch noch Wegzehrung. Der Wille zum Überleben und der Hunger hatten jetzt aber Überhand, so dass in dieser Situation alle Empfindungen wie Trotz, Scham und Wut ausgeschaltet waren. Diese Erfahrung machte ich immer wieder.
Neben den brennenden Füßen plagte mich ein quälender Hunger. Nirgends bot sich eine Möglichkeit, den Magen zu besänftigen. Mit einigen Schluck Wasser und der Hoffnung auf den nächsten Tag musste ich mich zufriedengeben. Den schmerzenden Füßen verschaffte ich noch etwas Linderung und dachte wieder einmal voller Dankbarkeit an Onkel Pawel. Was wäre aus mir geworden ohne ihn!